„Das Zwischenmenschliche muss Sicherheit schaffen“

Kristina Müller berät Firmen, die agil arbeiten wollen. Hier spricht sie darüber, welche Fähigkeiten Mitarbeiter in solchen Unternehmen benötigen und welcher Kulturwandel damit einhergehen sollte.

© Foto Lucia Bartl

Kommen agil arbeitende Unternehmen besser durch die Corona-Krise als traditionell arbeitende Firmen?
Sie haben zumindest eine bessere Ausgangslage, denn eine agile Herangehensweise soll Unternehmen ja vor allem dazu befähigen, schnell mit Veränderungen umzugehen. Die Corona-Pandemie hat besonders deutlich gemacht, wie rasch Pläne obsolet werden und wie schnell sich die Bedürfnisse von Kundinnen und Kunden ändern können. Unternehmen, die agil arbeiten, beziehen ihre Zielgruppen sehr früh in die Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen ein. Sie zeigen unfertige Produkte, um Feedback zu erhalten und ihren Kurs zu korrigieren, wenn sich ihre Annahmen als nicht tragfähig erweisen. Mit diesem Mindset können sie auch schneller auf Krisen reagieren. Auch die Mitarbeitenden sind anpassungsfähiger.

Inwiefern?
In agilen Unternehmen werden auch in Nicht-Krisenzeiten digitale Tools genutzt, um die Zusammenarbeit zu organisieren. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten leichter von einem Tag auf den anderen ins Home Office wechseln und aus der Ferne zusammenarbeiten, ohne sich zu lange mit der Technik aufzuhalten.

„Im agilen Kontext arbeitet man hypothesenbasiert. Man glaubt vielleicht, die Kundinnen und Kunden verstanden zu haben, stellt dann aber fest, dass sie das nicht so annehmen wie gedacht. Also muss man nachbessern.“

Welche Kompetenzen brauchen Mitarbeiter noch fürs agile Arbeiten?
Sie müssen Mehrdeutigkeit aushalten können. Im agilen Kontext arbeitet man hypothesenbasiert. Man glaubt vielleicht, die Kundinnen und Kunden verstanden zu haben, stellt dann aber fest, dass sie das nicht so annehmen wie gedacht. Also muss man nachbessern. Dieses iterative Vorgehen verlangt auch einen offenen Geist. Man muss sich frei machen können von „Das geht bei uns nicht“ oder „Das haben wir schon immer so gemacht.“ Stattdessen braucht es integrierendes Denken über Fachgrenzen hinweg. „Dafür bin ich nicht zuständig“ – diese Haltung ist passé. Und man benötigt Konfliktkompetenz: Man muss sich fachlich gut streiten können, ohne solche Auseinandersetzungen persönlich zu nehmen.

Wie können Unternehmen ihre Mitarbeiter am besten mitnehmen, wenn sie agile Arbeitsweisen einführen?
Nicht Wasser predigen und selbst Wein trinken: Wenn ich als Unternehmen agil arbeiten will, müssen das der Vorstand und die Führungsebenen vorleben. Und sie müssen für Sicherheit sorgen in einem Kontext, in dem Veränderung der ständige Begleiter ist. Es sind nicht länger Struktur und Planung, die Mitarbeitenden Sicherheit geben. Es braucht einen Kulturwandel, in dem das Zwischenmenschliche Sicherheit schafft. Den Mitarbeitenden muss vermittelt werden, dass sie sich unabhängig von ihrer Teamzugehörigkeit und ihrer Rolle einbringen und mit dem Unternehmen wachsen können. Dann ist Veränderung nicht bedrohlich. Dieser Kulturwandel ist aber keine einfache Sache. Meine Empfehlung ist deshalb, externe Expertinnen und Experten ins Unternehmen zu holen. Die bilden zusammen mit internen, gut vernetzten Fachleuten Tandems, die die Umstellung begleiten.

„Den Mitarbeitenden muss vermittelt werden, dass sie sich unabhängig von ihrer Teamzugehörigkeit und ihrer Rolle einbringen und mit dem Unternehmen wachsen können. Dann ist Veränderung nicht bedrohlich.“

In welchen Branchen wird die Suche nach neuen Formen der Zusammenarbeit am intensivsten betrieben?
In den Branchen, deren Geschäftsmodelle durch Digitalisierung, Automatisierung und Künstliche Intelligenz besonders gefährdet sind. Ich erhalte viele Anfragen von Banken und Versicherungen. Da ist technologisch und kulturell einiges zu tun. Ein Beispiel: Für die Kundinnen und Kunden einer Bank ist wichtig, dass sie ein Kreditangebot möglichst schnell erhalten. Die Bank würde aber am liebsten erst 47 Merkmale abchecken, bevor sie eine Zu- oder Absage erteilt. Hier steht die hundertprozentige Risikoabdeckung dem Kundenwunsch nach Schnelligkeit gegenüber. Wir haben also mit den Fachleuten aus der Revision geschaut, welche Kriterien unbedingt abgefragt werden müssen, um den Kunden rasch ein erstes Angebot unterbreiten zu können. Und bei welchen es reicht, sie erst im zweiten Schritt abzufragen, falls die Kunden bessere Konditionen erhalten möchten. Der Mehrwert für die Kunden sollte immer an erster Stelle stehen.

Zur Person:
Mit ihrer Beratungsfirma 99 Facets steht Kristina Müller Unternehmen bei Themen rund um Agilität und New Work zur Seite.