"Personalauswahl nach Bauchgefühl hat keinen Wert fürs Unternehmen"

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Thimo Fries, Recruitingprofi im HR-Service für Bosch, setzt bei Einstellungen auf evidenzbasierte Eignungsdiagnostik. Welche Vorteile ein solches Vorgehen für Unternehmen und Kandidaten bringt, erklärt er im Interview.

Was ist evidenzbasierte Eignungsdiagnostik?
Eignungsdiagnostik macht man eigentlich immer, wenn man Personal auswählt – man entscheidet entweder aus dem Bauch heraus oder mithilfe evidenzbasierter Kriterien. In der Wissenschaft herrscht Einigkeit darüber, dass evidenzbasierte Methoden bessere Ergebnisse bringen als die Auswahl nach Gefühl. In der Praxis nimmt man das bislang aber wenig zur Kenntnis. Mit dem Verein recruitingrebels wollen wir das ändern.

Wer engagiert sich in diesem Verein?
Wir haben ungefähr 60 Mitglieder aus Wissenschaft und Praxis. Uns alle eint das Ziel, das Recruiting professioneller zu machen und auf die Grundlage von Zahlen, Daten und Fakten zu stellen. Damit niemand im Vorstellungsgespräch gefragt wird, welches Tier oder Gemüse er oder sie denn wohl wäre? Solche Fragen werden in den sozialen Medien tatsächlich diskutiert.

„Ich hatte das Gefühl, mein Tun ist sinnlos. Es gab auch Fehlbesetzungen. Das hat mich dazu gebracht, mich stärker mit anderen Personalern auszutauschen. So bin ich auf die Eignungsdiagnostik gestoßen.“
Thimo Fries, Leiter Recruiting & Arbeitnehmerüberlassung HR Service für Bosch

Wie sind Sie zur Eignungsdiagnostik gekommen?
Ich habe früher auch so gearbeitet, dass ein Praktikant oder eine Praktikantin die Bewerbungen gesichtet und eine Vorauswahl getroffen hat. Ein paar Kandidaten und Kandidatinnen haben wir eingeladen und nach ihrer Motivation sowie nach Stärken und Schwächen gefragt. Dann haben wir gemeinsam mit dem Fachbereich eine Entscheidung getroffen. Diese Personalauswahl nach Bauchgefühl hat aber keinen Wert für das Unternehmen, das hätte der Fachbereich auch allein machen können. Ich hatte das Gefühl, mein Tun ist sinnlos. Es gab auch Fehlbesetzungen, wo es fachlich oder persönlich nicht gepasst hat, oder der Mitarbeiter wieder gegangen ist, weil die Motivation für die Stelle doch nicht so hoch war. Das hat mich dazu gebracht, mich stärker mit anderen Personalern auszutauschen. So bin ich auf die Eignungsdiagnostik gestoßen.

Wie reagieren Ihre Kolleginnen und Kollegen in den Fachbereichen?
Wir setzen den Prozess in der HR jetzt Stück für Stück auf und ich spüre ein wachsendes Interesse auch bei den Fachbereichen. Der erste Schritt der evidenzbasierten Eignungsdiagnostik ist die Anforderungsanalyse. Dieses Instrument schätzen die Fachkollegen meist sehr, denn dabei reflektiert jemand aus meinem Team oder ich selbst gemeinsam mit ihnen über die Stelle und das, was man als neuer Mitarbeitender können muss. Wir nutzen unter anderem die Critical Incident Technique, um herauszufinden, in welcher Situation sich der neue Stelleninhaber oder die neue Stelleninhaberin bewähren muss. Das hilft dabei, den Job in der Ausschreibung realistisch darzustellen. Dem Fachbereich helfen diese ausführlichen Gespräche bei der Selbstreflektion, das geht schon in Richtung Organisationsentwicklung. Die Anforderungsanalyse kostet natürlich Zeit, aber die ist gut investiert. Denn wenn der Fachbereich für eine Ausschreibung einfach ein paar Stichpunkte rüberschickt, sind Missverständnisse bei der Stellenbesetzung vorprogrammiert.

Worauf achten Sie beim Verfassen einer Stellenausschreibung?
Bosch ist eine starke Arbeitgebermarke und wir erhalten unendlich viele Bewerbungen – auch weil man sich mit einem Klick aus dem Social-Media-Profil heraus bei uns vorstellen kann. Bei manchen Stellen fällt uns die Besetzung dadurch sehr leicht. Bei anderen kommt es aber sehr darauf an, die richtigen Menschen zum Bewerben zu motivieren. Manchmal veröffentlichen wir verschiedene Varianten für eine Vakanz. Um die Rate der geeigneten Bewerberinnen zu erhöhen, vermeiden wir Konkurrenzsignale wie den Begriff „Durchsetzungsfähigkeit“. Und statt zu nur zu schreiben „Sie sind eine Expertin oder ein Experte auf dem Gebiet der …“ hilft die Ergänzung „… oder möchten sich dazu entwickeln“, den Kreis der Kandidatinnen zu erweitern.

„Eignungsdiagnostik bringt Fairness und Objektivität in den Bewerbungsprozess. Ein standardisierter Test gibt keinen Aufschluss über Hautfarbe oder Wohnort der Person. Das verbesserte die Chancengleichheit zum Beispiel von Menschen mit Migrationshintergrund oder sogenannten Arbeiterkindern.“
Thimo Fries, Leiter Recruiting & Arbeitnehmerüberlassung HR Service für Bosch

Wie geht es weiter, wenn Sie die Stelle ausgeschrieben haben?
Dann legen wir die Tools zur Kandidatenbewertung fest. Machen wir einen kognitiven Leistungstest oder einen Persönlichkeitstest, wie analysieren wir die Bewerbungsunterlagen? Eignungsdiagnostik bringt Fairness und Objektivität in den Bewerbungsprozess. Ein standardisierter Test gibt keinen Aufschluss über Hautfarbe oder Wohnort der Person. Das verbesserte die Chancengleichheit zum Beispiel von Menschen mit Migrationshintergrund oder sogenannten Arbeiterkindern. Wichtig ist, dass man bei der Auswahl der Tools Entscheidungsregeln für die Bewertung hinterlegt. Auch der Interviewleitfaden wird auf die Stelle hin entwickelt.

Und wie läuft das Interview ab?
Möglichst strukturiert. Das schafft eine objektive Bewertungsgrundlage, hilft aber auch beim Aufbau einer gemeinsamen Gesprächsbasis. Der Kandidat oder die Kandidatin fühlt sich nicht ausgefragt. Die Fragen sollten sich auf den gemeinsam mit dem Fachbereich entwickelten Critical Incident und andere für die Stelle spezifische Anforderungen beziehen und nicht einfach irgendetwas abfragen.

Welche Interviewfrage von Führungskräften – außer der nach dem Gemüse – stört Sie am meisten?
Im Grunde stört mich jede Frage, die spontan kommt und die nicht vorbereitet ist. Alles, wo man vorher nicht überlegt, wie man die Antwort werten will. Was macht man mit der Antwort auf die Frage nach persönlichen Stärken und Schwächen? Wenn man nachhakt, kommt man vom Hölzchen aufs Stöckchen.

Wie treffen Sie nach den Interviews eine Entscheidung?
Am Schluss haben Sie idealerweise für jeden Kandidaten und jede Kandidatin einen Punktwert und wählen die Person mit dem höchsten Wert aus. Die Eignungsdiagnostik kostet zwar am Anfang des Prozesses Zeit, dafür lässt sich dann sehr schnell eine fundierte Entscheidung treffen. Kann man das Urteil sauber begründen, festigt man seinen Expertenstatus im Unternehmen. Und den Bewerberinnen und Bewerbern kann man auch gut Feedback geben.

Hat die evidenzbasierte Eignungsdiagnostik die Passgenauigkeit bei der Stellenbesetzung in Ihrem Unternehmen erhöht?
Derzeit sind wir noch nicht so weit, dass wir unsere Leistung valide nachverfolgen können. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir mit der Eignungsdiagnostik auf einem guten Weg sind (lacht).

Der Verein recruitingrebels e.V.

Der Verein wurde im Oktober 2019 gegründet. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, dass Recruiting zu verbessern und zu professionalisieren. Der Verein möchte Bindeglied zwischen Wissenschaft, Praxis und Verbänden sein. Jeder, der daran mitwirken möchte, ist herzlich zur Mitarbeit eingeladen. Für eine Mitgliedschaft kann gern Thimo Fries (der im Vorstand des Vereins ist) angesprochen werden. Die Mitgliedschaft kostet 49 EUR pro Jahr für Privatpersonen.

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per Mail: info(at)recruitingrebels.org

Zur Person:
Der Jurist Thimo Fries leitet den Bereich Recruiting und Arbeitnehmerüberlassung im HR Service für Bosch. Er ist lizensierter Eignungsdiagnostiker und Vorstandsmitglied des Vereins recruitingrebels e. V.

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