Zeitversetzte Videointerviews – Einbahnstraße für Kandidat und Recruiter?

Wir haben uns alle mittlerweile daran gewöhnt, Kollegen und Vorgesetzte auf dem Bildschirm statt persönlich zu sehen. Für diejenigen, die sich in den letzten Jahren auf eine neue Stelle bewarben, stand das oftmals ein Videointerview auf der Tagesordnung. Doch was passiert, wenn du nur mit einer Kamera sprichst ohne dein Gegenüber kennenzulernen?

Im Frühjahr 2022 bewarb sich meine Freundin Lara auf ein Praktikum bei der NATO in Brüssel. Sie studiert aktuell im Master „International Security“, absolvierte bereits ein Praktikum bei einem Abgeordneten des Europäischen Parlaments und hat einen Master in „Peace and Development Work“. Um mehr über Sicherheit, Verteidigung und internationale Politik zu erfahren, wäre ein Praktikum bei der NATO eine erstklassige Erfahrung, dachte sie. Nach Einreichung ihrer Bewerbung wurde sie per Mail zu einem Gespräch eingeladen und erhielt einen Link zu einer Website von HireVue. Dort sollte sie an einem zeitversetzten Videointerview teilnehmen.

Ein zeitversetztes Videointerview ist eine Möglichkeit für Unternehmen und Organisationen über eine Plattform standardisierte Fragen an den Bewerber zu stellen. Der Bewerber wird bei der Beantwortung der Fragen gefilmt. Recruiter schauen sich anschließend Antworten und Reaktionen des Bewerbers an. Sie können alle Bewerber vergleichen und entscheiden, wen sie im nächsten Schritt bei einem persönlichen Gespräch kennenlernen wollen. Der Bewerber hat zu diesem Zeitpunkt keinen Einblick, wer auf Unternehmensseite sich die Videos ansieht und wie der Prozess abläuft. Ein solches Verfahren bietet natürlich Vorteile für das Unternehmen oder die Organisation, aber auch für den Bewerber.

Das Unternehmen kann leichter große Mengen Bewerber bearbeiten. Eine komplizierte Terminkoordinierung ist nicht nötig. Recruiter können sich in gewisser Weise den Aufwand sparen, die immer gleichen Bewerbungsfragen zu stellen. Der Bewerber wiederum hat die Möglichkeit, sich in seiner gewohnten Umgebung aufzuhalten, er kann sich Hilfsmittel bereitlegen und er hat eine gewisse Flexibilität, denn er kann selbst entscheiden, wann er am Interview teilnimmt.

Um sich auf das Bewerbungsgespräch vorzubereiten, schaute Lara sich ein Erklärvideo auf der HireVue-Webseite an, recherchierte, welche Fragen zuweilen gestellt werden und versuchte sich über die Website der NATO über das Praktikum und die Organisation selbst zu informieren. Mir erzählt sie, wie schwierig es war, sich eingehend zu informieren. Die meisten Informationen erhielt sie über Forenbeiträge auf anderen Websites. Dort berichteten frühere Bewerber von ihren Erfahrungen mit dieser Art Interview.

Nun also stellt sich Lara den Fragen im Videocall: Was motiviert Sie, ein Praktikum bei der North Atlantic Treaty Organization zu absolvieren? Was war bisher Ihr größter Erfolg? Was können Sie bei der NATO beitragen? Was waren in den letzten Jahren die zwei größten strategischen Entscheidungen der NATO? Lara zitiert Fragen aus ihrem Gedächtnisprotokoll und mich beschleicht die Frage: Wieso lässt die NATO nicht ihre Praktikumsanwärter ein Motivationsschreiben oder ein Essay zu diesen Fragen verfassen? Wenig Informationen und ein Ansprechpartner, der auf Nachfragen nicht reagiert, haben Lara das Videointerview nicht leicht gemacht. Sie beschreibt es als sehr einschränkend, wenn ein Dialogpartner fehlt, an dem man sich orientieren kann und dessen Reaktionen man interpretieren kann. Die Frage ist auch, wie unnatürlich man sich verhält, wenn man gefilmt wird. Es fehlt der Augenkontakt, man gestikuliert anders oder gar nicht mehr und wirkt dadurch künstlich in seinem Verhalten.

Ich kann das nachvollziehen, selbst wenn wir in unserer Personalberatung viel Erfahrung mit Videocalls gesammelt haben. Es ist doch etwas anderes, einen Gesprächspartner auf dem Bildschirm zu begegnen, statt nur stumpf in eine schwarze Linse zu blicken. Was von Unternehmensseite vernachlässigt wird: Googelt man Videocall, werden einem hunderte Websites vorgeschlagen, die kluge Ratschläge anbieten. Sie titeln: „Videointerview: Anleitung von Profis aus Film und TV – Welcher Hintergrund und Kameraausschnitt für das perfekte Video?“ oder „Wieso eine Drei-Punkt-Ausleuchtung für Ihr nächstes Videointerview unverzichtbar ist“. Drei-Punkt-Ausleuchtung? Wer hat sich denn schon mal mit Filler-, Key- und Effectlight wirklich auseinandergesetzt, statt sich einfach auf sein heimisches Deckenlicht zu verlassen? Für Lara war hingegen das größte Problem, ein gesichertes Netz zu bekommen. Denn im Zeitfenster des Interviews war sie im Urlaub. Mit der besten Bluse aus ihrem Reisekoffer, einer hoffentlich stabilen WLAN-Verbindung und unbekannten Lichtquellen im Hotelzimmer zu arbeiten, machte es nicht einfacher.

Wie gehen also Unternehmen und Organisation damit um, wenn Bewerber nicht über die organisatorischen und technischen Mittel verfügen, die sie voraussetzen? Finden solche „Hürden“ angemessene Berücksichtigung? Und was mit Bewerbern mit körperlichen Einschränkungen? Wenn Lara beschreibt, dass der genannte Ansprechpartner für die Videointerviews bei der NATO auf keine Mails und Nachfragen reagiert, also Informationen nicht zu erlangen sind, wie valide und objektiv sind dann zeitversetzte Interviews als Auswahlinstrument?

Ich gebe zu, ich bin persönlich kein großer Fan einer solchen Interview-Variante. Ich möchte in einem Bewerbungsgespräch nicht nur einen authentischen Eindruck hinterlassen, sondern auch mein Gegenüber kennenlernen und ein Gefühl dafür bekommen, mit wem ich vermutlich demnächst zusammenarbeite. Egal, ob für ein Praktikum oder eine Festanstellung. Für mich sind Interviews keine Einbahnstraße. Und auch wenn ich nachvollziehen kann, dass eine derart große Organisation wie die NATO Mittel und Wege braucht, um aus einer vermutlich großen Menge an Bewerbenden die besten Praktikumsanwärter herauszufiltern, bin ich mir nicht sicher, ob dies der richtige und faire Weg ist.

Lara hat nun endlich eine Antwort von der NATO erhalten. Eine automatisierte E-Mail gab ihr „Ausscheiden aus dem Bewerbungsprozess“ bekannt. Auf die Antwort ihres Ansprechpartners wartet sie noch heute.

Vor- und Nachteile zeitversetzter Videos aus Sicht der Kandidaten

Vorteile:

  • Im vorgegebenen Zeitfenster kann jeder selbst entscheiden, wann und wie man am Videointerview teilnimmt.

  • Es ist möglich, sich auf das Gespräch etwas vorzubereiten, Hilfsmittel können in Sichtnähe platziert werden.

  • Das Interview kann am Ort der Wahl stattfinden und optimal (Licht, Technik) vorbereitet werden.

Nachteile:

  • Die Anonymität lässt zeitversetzte Interviews wenig wertschätzend wirken.

  • Ein Dialog oder Nachfragen sind nicht möglich. Es entsteht der Eindruck, Nachfragen seien unerwünscht. (Einbahnstraße)

  • Zeitversetzte Video-Interviews vermitteln den Eindruck, hier wird Masse günstig und effizient bearbeitet. Der Bewerber ist hier einer von Vielen. (Fließband–Kandidat)

  • Die Fähigkeit, sich in Videos perfekt zu präsentieren, steht hier im Vordergrund. Ist das eine Eigenschaft, die für die Position überhaupt relevant ist?

  • Für „Sprech-Überleger“ ein schlechtes Format: Unter Druck und in kurzer Zeit müssen alle Informationen auf den Punkt gebracht werden.

  • Bewerber mit körperlichen Einschränkungen dürften hier schlechtere Chancen haben.