"Die Digitalisierung verschafft Juristen neue Freiräume"
Wie künstliche Intelligenz dabei hilft, Sammelklagen vorzubereiten, und welche Auswirkungen die Digitalisierung auf den Beruf des Juristen hat, erklärt der ehemalige Vorstand eines großen Prozessfinanzierers, Dr. Arndt Eversberg.

Das Geschäftsmodell Prozessfinanzierung ist in Deutschland mit dem Dieselskandal ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Wie funktioniert Prozessfinanzierung, Herr Dr. Eversberg?
Wenn ein Unternehmen oder eine Privatperson zur Durchsetzung einer Forderung klagen muss und die Gewinnchancen gut stehen, stehen auch die Chancen gut, dass ein Prozessfinanzierer die Kosten für die Durchsetzung der Ansprüche vorstreckt. Im Erfolgsfall erhält der Prozessfinanzierer dann 20 bis 30 Prozent vom Ergebnis, im Verlustfall trägt er alle Kosten. Es ist ein bisschen Bankgeschäft, ein bisschen Versicherungsgeschäft. In Folge des Dieselskandals hat die Bundesregierung 2018 zwar die sogenannte Musterfeststellungsklage eingeführt, jedoch waren es Anwaltskanzleien und Prozessfinanzierer, die zigtausend Geschädigte im In- und Ausland in Einzel- und Sammelklagen unterstützt haben. Da es in Europa bis dato keine Sammelklagen nach amerikanischem Vorbild gibt, war die Aufregung groß.
Wie hat sich aus dieser Finanzdienstleistung eine eigene Branche entwickelt?
Prozessfinanzierung gibt es hierzulande erst seit der Jahrtausendwende. 1999 ist die FORIS AG zum ersten Mal mit dieser Dienstleistung aufgetreten und auch an die Börse gegangen. Dann sind die Versicherer Allianz, ERGO und Roland gefolgt und haben die ersten zehn Jahre den Markt beherrscht. Vor circa zwölf Jahren wurde die Branche dann zunehmend internationaler: Investoren haben in der Niedrigzinsphase weltweit nach Möglichkeiten gesucht, Kapital gewinnbringend anzulegen. Und da Deutschland ein Wirtschaftsstandort mit vielen rechtlichen Auseinandersetzungen ist, haben sie hier investiert. Die Roland ProzessFinanz AG, bei der ich Vorstand war, wurde beispielsweise vor fünf Jahren von Omni Bridgeway aus Amsterdam gekauft, einem Unternehmen, das heute nach einem weiteren Zusammenschluss an der Börse in Sydney gelistet ist und weltweit agiert.
Wie haben Massenklagen hierzulande die Branche verändert?
Hier mussten tausende Klagen bearbeitet und zusammengeführt werden. Spezialisierte Legal-Tech-Unternehmen haben Programme und Algorithmen geschrieben, die bei der Rationalisierung dieser Klagen helfen. Künstliche Intelligenz übernimmt hier die Recherche und zunehmend auch das Formulieren von Schriftsätzen. Das funktioniert, weil in Prozessen wie denen zum Dieselskandal sich die Schriftsätze baukastenartig zusammensetzen lassen: Die Angaben zum Geschädigten und die Fahrzeugdaten unterscheiden sich, aber der Rest folgt demselben Muster und wird mit jedem weiteren Fall optimiert.
Was bedeutet der Einsatz künstlicher Intelligenz für die Arbeit von Juristen?
Juristen verschafft die Digitalisierung neue Freiräume: Wenn die KI die monotone Arbeit übernimmt, können sie sich mit interessanten Fragestellungen beschäftigen, sich eher spezialisieren und müssen auch nicht mehr zwölf Stunden im Büro verbringen. Das betrifft auch Rechtsanwaltsfachangestellte, die ganz überwiegend immer noch weiblich sind und flexible Arbeitsmodelle wünschen. Die verbesserte Work-Life-Balance, die mit der Digitalisierung einhergeht, entspricht schließlich auch den Vorstellungen der Generationen Y und Z.
Wird künstliche Intelligenz auch eingesetzt, um zu prüfen, welches Mandat Prozessfinanzierer annehmen und welches nicht?
In standardisierten Verfahren wie den erwähnten Sammelklagen mag die KI bei der Auswahl helfen, aber in einem komplizierten Erbrechtsfall weit weniger. Da braucht es Erfahrung und Menschenkenntnis, weil es in solchen Fällen vielfach nicht nur um Geld, sondern auch um Emotionen geht. Wie wird sich der Kläger, wie der Beklagte im Verfahren verhalten? Sind beide gegebenenfalls bereit, sich zu vergleichen, oder gibt es ein Familientrauma, das einem Kompromiss entgegensteht? Das und einiges mehr muss ich als Prozessfinanzierer berücksichtigen. Von zehn Verfahren werden daher nicht mehr als zwei oder drei finanziert. Die richtige Auswahl ist am Anfang entscheidend dafür, dass am Ende die Erfolgsquote stimmt und Geld verdient wird. Und dafür braucht es qualifizierte und erfahrene Mitarbeiter.
Wie weiblich ist die Branche?
Die Prozessfinanzierung ist schon heute sehr stark mit Frauen besetzt. Ich habe zwei Firmen jeweils an eine Nachfolgerin übergeben und war kurzzeitig der einzige Mann im Team. Auch in den Justizbehörden arbeiten viele Frauen. In Kanzleien war das in der Vergangenheit weniger der Fall. Aber auch dort ändert sich dank Digitalisierung und hybrider Arbeitsmodelle etwas: Frauen, die Job und Familie vereinen möchten, haben inzwischen bessere Aufstiegschancen, weil sie nicht länger eine 50- oder 6 0-Stunden-Woche im Büro erwartet. Männer wiederum, die früher nicht vor ihrem Chef nach Hause gehen durften, arbeiten heute auch teilweise im Homeoffice. Die Pandemie hat gezeigt: Das funktioniert! Chancengleichheit im Job finde ich sehr wichtig und meiner Erfahrung nach funktionieren gemischte Teams besser als Teams, die nur aus Männern oder nur aus Frauen bestehen.
Zur Person:
Der Jurist und Anwalt Dr. Arndt Eversberg baute kurz nach der Jahrtausendwende das Münchener Büro der FORIS AG und danach die Prozessfinanzierung der Allianz ProzessFinanz AG in München auf. Von 2012 an war er Vorstand der Roland ProzessFinanz AG in Köln. Nach der Fusion mit der holländischen Omni Bridgeway 2017 verantwortete er bis Mitte 2021 den DACH-Markt als Alleinvorstand der Omni Bridgeway AG in Köln.
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