Um sich auf das Bewerbungsgespräch vorzubereiten, schaute Lara sich ein Erklärvideo auf der HireVue-Webseite an, recherchierte, welche Fragen zuweilen gestellt werden und versuchte sich über die Website der NATO über das Praktikum und die Organisation selbst zu informieren. Mir erzählt sie, wie schwierig es war, sich eingehend zu informieren. Die meisten Informationen erhielt sie über Forenbeiträge auf anderen Websites. Dort berichteten frühere Bewerber von ihren Erfahrungen mit dieser Art Interview.
Nun also stellt sich Lara den Fragen im Videocall: Was motiviert Sie, ein Praktikum bei der North Atlantic Treaty Organization zu absolvieren? Was war bisher Ihr größter Erfolg? Was können Sie bei der NATO beitragen? Was waren in den letzten Jahren die zwei größten strategischen Entscheidungen der NATO? Lara zitiert Fragen aus ihrem Gedächtnisprotokoll und mich beschleicht die Frage: Wieso lässt die NATO nicht ihre Praktikumsanwärter ein Motivationsschreiben oder ein Essay zu diesen Fragen verfassen? Wenig Informationen und ein Ansprechpartner, der auf Nachfragen nicht reagiert, haben Lara das Videointerview nicht leicht gemacht. Sie beschreibt es als sehr einschränkend, wenn ein Dialogpartner fehlt, an dem man sich orientieren kann und dessen Reaktionen man interpretieren kann. Die Frage ist auch, wie unnatürlich man sich verhält, wenn man gefilmt wird. Es fehlt der Augenkontakt, man gestikuliert anders oder gar nicht mehr und wirkt dadurch künstlich in seinem Verhalten.
Ich kann das nachvollziehen, selbst wenn wir in unserer Personalberatung viel Erfahrung mit Videocalls gesammelt haben. Es ist doch etwas anderes, einen Gesprächspartner auf dem Bildschirm zu begegnen, statt nur stumpf in eine schwarze Linse zu blicken. Was von Unternehmensseite vernachlässigt wird: Googelt man Videocall, werden einem hunderte Websites vorgeschlagen, die kluge Ratschläge anbieten. Sie titeln: „Videointerview: Anleitung von Profis aus Film und TV – Welcher Hintergrund und Kameraausschnitt für das perfekte Video?“ oder „Wieso eine Drei-Punkt-Ausleuchtung für Ihr nächstes Videointerview unverzichtbar ist“. Drei-Punkt-Ausleuchtung? Wer hat sich denn schon mal mit Filler-, Key- und Effectlight wirklich auseinandergesetzt, statt sich einfach auf sein heimisches Deckenlicht zu verlassen? Für Lara war hingegen das größte Problem, ein gesichertes Netz zu bekommen. Denn im Zeitfenster des Interviews war sie im Urlaub. Mit der besten Bluse aus ihrem Reisekoffer, einer hoffentlich stabilen WLAN-Verbindung und unbekannten Lichtquellen im Hotelzimmer zu arbeiten, machte es nicht einfacher.
Wie gehen also Unternehmen und Organisation damit um, wenn Bewerber nicht über die organisatorischen und technischen Mittel verfügen, die sie voraussetzen? Finden solche „Hürden“ angemessene Berücksichtigung? Und was mit Bewerbern mit körperlichen Einschränkungen? Wenn Lara beschreibt, dass der genannte Ansprechpartner für die Videointerviews bei der NATO auf keine Mails und Nachfragen reagiert, also Informationen nicht zu erlangen sind, wie valide und objektiv sind dann zeitversetzte Interviews als Auswahlinstrument?
Ich gebe zu, ich bin persönlich kein großer Fan einer solchen Interview-Variante. Ich möchte in einem Bewerbungsgespräch nicht nur einen authentischen Eindruck hinterlassen, sondern auch mein Gegenüber kennenlernen und ein Gefühl dafür bekommen, mit wem ich vermutlich demnächst zusammenarbeite. Egal, ob für ein Praktikum oder eine Festanstellung. Für mich sind Interviews keine Einbahnstraße. Und auch wenn ich nachvollziehen kann, dass eine derart große Organisation wie die NATO Mittel und Wege braucht, um aus einer vermutlich großen Menge an Bewerbenden die besten Praktikumsanwärter herauszufiltern, bin ich mir nicht sicher, ob dies der richtige und faire Weg ist.
Lara hat nun endlich eine Antwort von der NATO erhalten. Eine automatisierte E-Mail gab ihr „Ausscheiden aus dem Bewerbungsprozess“ bekannt. Auf die Antwort ihres Ansprechpartners wartet sie noch heute.